- Wittgensteins Philosophie: Sprachspiele
- Wittgensteins Philosophie: SprachspieleIn der Philosophie des 20. Jahrhunderts löste Ludwig Wittgenstein eine ähnlich einschneidende Revolution der philosophischen Denkweise aus wie Kant in der des 18. Jahrhunderts. Steht Kant für die Einsicht, dass es ohne Erkenntniskritik, ohne Reflexion auf das wahrnehmende und begreifende Subjekt kein richtiges Sehen der Welt gibt, so Wittgenstein für die radikalere Einsicht, dass es ohne Sinnkritik, ohne Reflexion auf die Sprache und deren sinnvollen Gebrauch kein richtiges Sehen der Welt gibt. Bei seinen Cambridger Lehrern und Freunden Bertrand Russell und George Edward Moore konnte Wittgenstein den Zweifel an den Erkenntnis- und Verständigungsleistungen der Sprache lernen, sei es der Alltagssprache oder der philosophischen Bildungssprache. Aber erst durch Wittgenstein wurde der »Linguistic turn«, die Wendung der Philosophie zur Sprachanalyse, zum erklärten Paradigma und zur unaufhebbaren Voraussetzung modernen Philosophierens.Wittgensteins Hauptwerke galten bei vielen als grundlegend für die beiden großen Richtungen der sprachanalytischen Philosophie: sein einziges zu Lebzeiten veröffentlichte Buch, der »Tractatus logico-philosophicus« (1921), für die logisch-analytische Richtung, den »logischen Empirismus«; die nach seinem Tod erschienenen »Philosophischen Untersuchungen« (1953) für die umgangssprachliche Richtung der sprachanalytischen Philosophie, die »Ordinary language philosophy«. Neben dieser vorwiegend angelsächsischen Rezeption der wittgensteinschen Philosophie gab es eine zunehmende kontinentaleuropäische Faszination für Wittgenstein als einen vom Rätsel des Lebens, vom Unaussprechlichen, Sich-Zeigenden besessenen Philosophen. In dieser Rezeptionslinie galt er als Denker, der in einem nachmetaphyischen und wissenschaftlich-technischen Zeitalter - darin vergleichbar mit Philosophen ganz anderer Richtung wie Martin Heidegger oder Theodor W. Adorno - ein Philosophieren vertrat, das sich nicht an den Wissenschaften, sondern an der Kunst maß. Der berühmte letzte Satz des »Tractatus« - »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« - beinhaltet kein wissenschaftsgläubiges Redeverbot, sondern die Forderung, nicht durch metaphysisches Reden das beunruhigende Fragen nach dem Sinn des Lebens scheinhaft zu beantworten und zu beschwichtigen. So unterschiedlich Stil und Thematik von Wittgensteins früher und späterer Phase sind, so deutlich ist doch nach der Veröffentlichung eines Großteils seines umfangreichen schriftlichen Nachlasses das Verbindende: durch Einsicht in das Funktionieren der Sprache zu einer Betrachtung des paradoxen menschlichen Lebens »mit glücklichen Augen« zu gelangen.An der Zuständigkeit der Philosophie für »tiefe Probleme« hielt Wittgenstein zwar fest, stimmte aber ihren hohen Ton herab. Seine Bücher lassen sich daher größtenteils wie literarische Texte lesen. Wittgenstein, der in Wien dank des kunstliebenden und mäzenatischen Elternhauses die Kunst dieser kulturellen Hauptstadt Europas vor dem Ersten Weltkrieg aus nächster Nähe kennen gelernt hatte und dort in den Zwanzigerjahren für seine Lieblingsschwester ein Haus von kühl-eleganter Modernität baute, betrachtete seine einzige Buchpublikation, den »Tractatus«, als ein ebenso sehr ästhetisches wie philosophisches Werk. Auch später hielt er an der Ansicht fest, »Philosophie dürfe man eigentlich nur dichten«. Das bedeutete für ihn aber gerade nicht, die Gedanken in schöne oder kühne Sprachbilder einzukleiden, sondern dem Stil des Philosophierens das Gewicht einer Lebensform zuzumessen.Zum literarischen Charakter von Wittgensteins Philosophie gehören die reichliche Verwendung von Metaphern und Vergleichen, Modellen und Beispielen sowie die Verwendung von alltagssprachlichen Begriffen anstelle philosophischer Fachbegriffe. »Was ist dein Ziel in der Philosophie? - Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.« Das Fliegenglas ist nicht eine Falle, die zuschnappt, wenn das Opfer hineingeraten ist. Der Weg, auf dem die Fliege hineinkam, bleibt offen und könnte ihr Ausweg sein, wenn sie fähig wäre, ihn als solchen wahrzunehmen. Ähnlich verhält es sich in einem anderen Gleichnis: »Ein Mensch ist in einem Zimmer gefangen, wenn die Tür unversperrt ist, sich nach innen öffnet; er aber nicht auf die Idee kommt zu ziehen, statt gegen sie zu drücken.« Solche Formen der Präsentation von Problemen in alltäglichen Handlungszusammenhängen verleihen sonst zunächst skurril wirkenden philosophischen Fragen und Gedanken einen lebenspraktischen Sinn. »Schauen Sie es einmal so an!«, konnte Wittgenstein daher sagen, um prägnant die Geste seines Philosophierens und dessen erwünschten Effekt anzudeuten.Der Begriff »Sprachspiel« ist zu Recht zum Kennzeichen von Wittgensteins Philosophie geworden. Wittgenstein hat damit auf originelle Weise einen Tätigkeitsbereich menschlichen Lebens vor Augen gerückt, in dem praktisch gelöst ist, was theoretisch unmöglich scheint: eine Verständigung durch sprachliche Ausdrücke, deren Bedeutung sich nicht gemeinsam festlegen lässt. »Sprache« ist, wie »Handlung«, eine jener »dritten« Kategorien, durch die Dualismen der philosophischen Tradition wie Körper und Geist, Bewusstsein und Gegenstand unterlaufen werden. Aber nur wenn Sprache nicht abgelöst von ihrem Funktionieren gesehen wird, kann diese Kategorie vor Scheinproblemen bewahren oder Scheinprobleme beseitigen helfen.Durch das Wort »Sprachspiel« wollte Wittgenstein »hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform«: dass sprachliche Äußerungen nur Sinn haben im Rahmen eines bestimmten »Spiels«, eines Handlungszusammenhangs. Beispiele für Sprachspiele sind: befehlen und nach Befehlen handeln, einen Gegenstand beschreiben oder nach einer Beschreibung herstellen, eine Geschichte erfinden, einen Witz erzählen, bitten, danken, grüßen, fluchen. Als »Sprachspiel« bezeichnete Wittgenstein sowohl Teilsysteme als auch das Ganze einer Lebensform. Es gibt aber kein ein für allemal feststehendes Gesamtsystem der Sprachspiele; vielmehr entstehen immer wieder neue Sprachspiele, während andere veralten. Das Modell des Spiels ist allerdings wenig geeignet, die das ganze Leben durchdringende Rolle der Sprache deutlich zu machen. Spielen ist eine vorübergehende Tätigkeit, der Naturbeherrschung enthoben; es ist nichts Lebensnotwendiges und Existenzbestimmendes. Aber das Modell des Spiels macht deutlich: Wörter, Sätze sind sinnvoll nur als Bestandteile von Handlungssystemen, bei denen mehrere Beteiligte gemeinsam Regeln folgen, die generativ sind, das heißt, nach denen immer wieder Neues erzeugt werden kann; die intersubjektive Geltung haben, das heißt, gemeinsame menschliche Handlungsweisen ermöglichen; die konstitutiv sind, das heißt, in der Natur nicht vorkommende menschliche Verhaltensweisen hervorbringen. Nicht zuletzt hat der Ausdruck »Sprachspiel« den Vorzug, dass er alltäglich anmutet und es nahe legt, Probleme in faktischen oder fiktiven Handlungskontexten zu betrachten.Als Anstoß zum Philosophieren gilt seit alters her das Erstaunen über das, was den meisten selbstverständlich und nicht bedenkenswert erscheint. Auch Wittgenstein sieht im Erstaunen das auslösende Moment für das Philosophieren. Aber seiner Ansicht nach sehen die Philosophen zumeist nur deshalb Merkwürdiges, weil sie etwas missverstehen; und sie missverstehen etwas, weil sie etwas »Triviales«, nämlich die Sprachpraxis, nicht genug beachten, weil sie die Sprache nicht in ihrem Funktionieren wahrnehmen. Sie verhalten sich wie die Sammler und Völkerkundler früherer Zeiten, die Objekte von vermeintlich primitiven Völkern mitbrachten und sie als exotische Sonderbarkeiten oder autonome Kunstwerke betrachteten - isoliert von den Lebensformen, in deren Umgebung sie ihre Bedeutung hatten. Ähnlich erklärt Wittgenstein die Beschäftigung der meisten Philosophen mit Scheinproblemen dadurch, dass sie Phänomene nicht in »trivialen« Zusammenhängen, nicht im Kontext von Sprachspielen sehen, sondern mit »Über-Begriffen« in »sublimen« Dimensionen hantieren. So kann zum Beispiel das Scheinproblem entstehen, wie man um die Gedanken und Gefühle anderer wissen kann, wo doch »Gedanken und Gefühle privat sind«. Der, dem das zur fixen Idee geworden ist, ist blind dafür, dass der Satz »Gedanken und Gefühle sind privat« normalerweise einfach soviel heißt wie: »Man kann seine Gedanken und Gefühle verbergen, ja lügen und sich verstellen«. Eine andere Bedeutung könnte sich nur in einem bestimmten ungewöhnlichen Kontext, in einem Sprachspiel spezieller Art ergeben, das dann genauer zu charakterisieren wäre. Das Sprachspiel wäre dann eben ein anderes. In ihm hätte das scheinbar Merkwürdige wiederum einen plausiblen Sinn.Der Philosoph, der Wittgensteins Forderungen gerecht wird, führt »die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück«. Er ist gewissermaßen ein Therapeut für Scheinprobleme. Er analysiert die »arbeitende« Sprache und hat einen Blick für die Aspekte der Dinge, die für uns zwar wichtig oder lebensnotwendig sind, aber durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen sind. Das läuft keineswegs auf eine problemblinde Anpassung hinaus. Unsere Sehweisen sind hinzunehmen als Bestandteile von Lebensformen, aber mit dem Blick auf andere Lebensformen, für die ebenfalls gilt: »Nur beschreiben kann man hier und sagen: so ist das menschliche Leben«.Worauf es ankommt, ist das Mobilhalten der Sehweisen, die Fähigkeit zum Aspektwechsel. Ein Mittel dazu ist das Ersetzen abgenutzter, verblasster Metaphern durch Vergleiche und Gleichnisse. Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen; dem scheinbar Eingesperrten zeigen, wie die Tür zu öffnen ist - das versucht Wittgenstein zu erreichen, indem er durch die Sprachspiel-Metapher auf die Verwobenheit der Sprache mit dem gesamten Handlungskontext hinweist und damit auf die Chance, durch die Änderung eines der Elemente einer komplexen Ganzheit das Ganze anders und mit neuen Möglichkeiten zu sehen. Das hat einen »ethnologischen Blick« zur Folge und ermöglicht das Verständnis für andere, fremde Lebensformen: Wer die eigene Lebensform nicht mehr für die einzig richtige hält, weil er ein Bewusstsein davon hat, dass die vertrauten Dinge und Verhaltensweisen vertraut nur in einer bestimmten Umgebung sind, dass Umgebungen, je nach Ort und Zeit, natürlichen und geschichtlichen Gegebenheiten verschieden sind, der wird da, wo ihm Dinge und Verhaltensweisen befremdlich erscheinen, Ausschau nach dem dem Kontext halten, in dem sie verständliche Erscheinungen bilden. Der »Sprachspiel«-Blick auf das vertraute Eigene eröffnet zugleich den Zugang zum Fremden als einer neuen Umgebung, einer anderen Sehweise. Dann kann sich ein Gefühl für die Gemeinsamkeiten derer entwickeln, die in wechselnden und unterschiedlichen Sprachspielen leben.Dr. Rolf WiggershausGeschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 8: 20. Jahrhundert, herausgegeben von Reiner Wiehl. Neuausgabe Stuttgart 1995.Philosophie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Anton Hügli und Poul Lübcke. 2 Bände. Reinbek 2-31996—98.Wuchterl, Kurt: Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Von Husserl zu Heidegger. Eine Auswahl. Bern u. a. 1995.
Universal-Lexikon. 2012.